- Erst Jugendamt, dann Gericht: Wer außergerichtlichen Einigungsversuch umgehen will, verliert Anspruch auf Verfahrenskostenhilfe
Verfahrenskostenhilfe (VKH) - Prozesskostenhilfe außerhalb des Famlienrechts - können diejenigen beantragen, die sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln außerstande sehen, die Prozesskosten selbst zu tragen. Doch dabei sollte verantwortungsvoll mit öffentlichen Mitteln umgegangen werden, wie kürzlich sowohl das Amtsgericht Bad Liebenwerda (AG) als auch das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) bestätigten.
Wenn getrenntlebende Eltern sich um Umgangs- oder Sorgerecht streiten, vermittelt das örtliche Jugendamt oder verweist die Eltern an eine kostenfreie Beratungsstelle. Wenn man den Versuch einer außergerichtlichen Einigung jedoch überspringen möchte und gleich einen Antrag beim Familiengericht stellt, bekommt man dort in der Regel keine VKH bewilligt. So ging es einem Vater beim AG.
Auch das OLG bestätigte schließlich die Ablehnung. Es sei nicht der Zweck der VKH, auf Kosten der Allgemeinheit bedürftigen Personen Prozesse zu ermöglichen, die ein Selbstzahler nicht führen würde. Ein auf sein Geld achtender Selbstzahler würde zunächst kostenlose Angebote wahrnehmen und erst nach deren Scheitern gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen. Erst, wenn solche Bemühungen fehlgeschlagen oder objektiv aussichtslos sind oder die Dringlichkeit einen solchen Zeitverlust nicht zulässt, ist VKH möglich.
Hinweis: Der Anspruch auf Beratung und Unterstützung durch das Jugendamt bei der Ausübung des Umgangsrechts beruht auf § 18 Achtes Buch Sozialgesetzbuch.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Urt. v. 07.04.2022 - 13 WF 52/22(aus: Ausgabe 06/2022)
- Ordnungsgeld nach Umgangsverweigerung: Auch eine Wöchnerin darf den Umgang von älterer Tochter nicht einfach ausfallen lassen
Wenn vor Gericht der Umgang zwischen einem Kind und seinem getrenntlebenden Elternteil festgelegt wurde - egal, ob durch Beschluss oder Einigung -, dann ist das für alle verbindlich. Bei Verstößen kann das Gericht finanziellen Druck aufbauen, so wie das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG), das im folgenden Fall die Vorinstanz bestätigte.
Ein Vater durfte seine Tochter ohnehin schon nur unter professioneller Begleitung sehen. Die Mutter war durch das Amtsgericht (AG) verpflichtet worden, das Kind zu den Terminen in einem sogenannten "Familienzentrum" abzugeben. Zweimal erschien die Mutter nicht - folglich auch nicht die Tochter. Die Mutter begründete das damit, dass sie zwei bzw. vier Wochen zuvor erneut ein Kind geboren habe, somit noch Wöchnerin war. Zudem sei das Neugeborene krank gewesen. Weder ihr noch dem Baby seien die Strapazen einer solchen mehrstündigen Aktivität zumutbar gewesen. Niemand sonst habe die ältere Tochter zum 30 km entfernten Familienzentrum bringen und abholen können.
Trotz dieser Begründung musste sie ein Ordnungsgeld von 300 EUR zahlen. Denn das OLG bestätigte das AG: Die Umgangsregelung ist für beide Elternteile verbindlich. Wer Termine ausfallen lässt, müsse sich so entschuldigen, dass man ihm nichts vorwerfen können, denn die sogenannte Vorwerfbarkeit wird gesetzlich vermutet. Das OLG war hier der Meinung, dass sowohl die Wöchnerin als auch ihr Neugeborenes die Autofahrt und die Wartezeit während des Umgangs hätten schaffen müssen. Eine "krankheitsbedingte Transportunfähigkeit" sei nicht ärztlich attestiert worden - und selbst wenn, hätte die Mutter sich rechtzeitig um jemanden kümmern müssen, der die ältere Tochter zum Umgang mit ihrem Vater bringt.
Hinweis: Solche Beschlüsse haben meist eine lange Vorgeschichte von Umgangsverweigerung, weshalb die Gerichte über das Ordnungsgeld versuchen, einen verweigernden Elternteil zu erziehen. Die Höhe des Ordnungsgelds wird immer individuell anhand der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Mutwilligkeit des Verstoßes festgelegt. Diese Beträge fließen jedoch in die Staatskasse und nicht an den, dessen Umgangskontakt ausgefallen ist.
Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 21.04.2022 - 13 WF 51/22(aus: Ausgabe 06/2022)
- Wille eines Zwölfjährigen: Wechselmodell kann auch bei andauerndem Elternkonflikt durchgesetzt werden
Nachdem der Bundesgerichtshof 2017 klargestellt hat, dass Gerichte auch gegen das Veto einer Mutter das Wechselmodell erzwingen können, sind die Störung der elterlichen Kommunikation, die fehlende Kooperationsfähigkeit und die sogenannte Hochkonflikthaftigkeit weiterhin die häufigsten K.-o.-Kriterien für dieses Umgangsmodell. Zunehmend gehen Gerichte auch damit allerdings sehr differenziert um und prüfen, ob diese gestörte Elternebene nicht in allen Betreuungsmodellen gleichermaßen schädlich ist und es die Situation sogar entschärfen könnte, wenn zwischen den Eltern kein Machtgefälle mehr empfunden wird.
In diesem Fall war 2021 für das Amtsgericht (AG) ausschlaggebend gewesen, dass das damals elfjährige Kind sich nach einer Zeit, in der es den Vater in jeder zweiten Woche von Donnerstagnachmittag bis Dienstagmorgen getroffen hatte, einen Woche-Woche-Wechsel gewünscht hatte. Da die Entscheidung des AG sofort wirksam war, wurde dies dann auch vorläufig umgesetzt, obwohl die Mutter zum Oberlandesgericht (OLG) in Beschwerde ging. Bis zur einer Entscheidung 2022 nach einer gescheiterten Mediation der Eltern konnte man somit bereits auf ein Jahr Wechselmodellerfahrung zurückblicken. Das Kind wollte diese Umgangsform immer noch, beschrieb diese Regelung als besser als zuvor und zudem als "fair". Praktische Probleme habe es nicht gegeben. Eine vernünftige, am Kindeswohl orientierte Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern war jedoch immer noch kaum möglich. Es fehlte weiterhin an gegenseitigem Respekt und Vertrauen, die direkte Kommunikation war eingestellt. Der massive Elternkonflikt war zudem Gegenstand eines Sorgerechtsverfahrens bezüglich einer ärztlichen Behandlung, da das Kind seit Jahren Verhaltensauffälligkeiten wegen des andauernden Elternkonflikts zeigte.
Die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern ist nach OLG aber nur ein Abwägungsgesichtspunkt, der im Einzelfall zurücktreten kann. Gegenüber anderen Betreuungsgestaltungen - wie etwa dem zuvor praktizierten erweiterten Umgang des Vaters mit seinem Sohn - stellte das Wechselmodell nach dem "Prinzip der Schadensminimierung" das für das Kind am wenigsten schädliche und damit im Vergleich beste Betreuungsmodell dar. Alle für die Durchführung des Wechselmodells bedeutsamen Fragen seien zwischen den Eltern geklärt. Daher funktioniere das Wechselmodell in der Praxis im Wesentlichen reibungslos.
Den klaren, gut begründeten und im Verfahren mehrfach geäußerten Willen des inzwischen fast Zwölfjährigen konnte das OLG nicht übergehen. Das hohe Gerechtigkeitsempfinden des Kindes sei zu respektieren. Das gelte auch vor der Überlegung, dass das Kind Opfer eines Loyalitätskonflikts sei und nur "Ruhe" wolle. Der konstant geäußerte Wunsch nach hälftiger Betreuung stelle seine psychische Lebenswirklichkeit dar. Eine Nichtbeachtung des Willens berge die Gefahr einer Schwächung der kindlichen Selbstwirksamkeitserwartung mit voraussichtlich negativen Folgen für seine psychische Entwicklung.
Hinweis: Das OLG entschied ohne Sachverständigen, weil es die Sachlage nach Anhörung des Kindes so eindeutig fand, dass es von einem Sachverständigengutachten keinen erheblichen Erkenntnisgewinn erwartete. Üblicherweise werden in solchen Verfahren jedoch Gutachten über die Familie eingeholt, die die Eltern viele tausend Euro kosten, wenn sie nicht Verfahrenskostenhilfe gewährt bekommen haben.
Quelle: OLG Dresden, Beschl. v. 14.04.2022 - 21 UF 304/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Wohnvorteil entscheidend: Tilgungsleistungen eines Immobiliendarlehens können beim Kindesunterhalt berücksichtigt werden
Wohnt ein Unterhaltspflichtiger in einem Eigenheim und behauptet dann, ihm bliebe nicht genug, um den geschuldeten Kindesunterhalt zu leisten, mag man instinktiv zuerst die Stirn in Falten legen. Doch so einfach, wie es sich auf den ersten Blick liest, ist die Sache naturgemäß nicht. Denn hier spielen auch in den Augen des Bundesgerichtshofs (BGH) sowohl der Mietwert der Immobilie als auch diesbezügliche Kreditbelastungen eine Rolle.
Ein Vater zahlte für seine 13 und 15 Jahre alten Kinder aus geschiedener Ehe keinen Unterhalt, weil er sich diesen angeblich nicht leisten könne. Also sprang die Unterhaltsvorschusskasse beim Jugendamt ein und verlangte die Beträge vom Vater nun ersetzt. Der Vater verdiente bereinigt 1.664 EUR netto und hatte sich eine kleine Immobilie zum Selbstbewohnen bankfinanziert gekauft. Der Mietwert lag um 27,50 EUR höher als die Raten an die Bank. Insgesamt konnte der Vater sich damit unter Beachtung seines Selbstbehalts von 1.160 EUR nicht den Mindestunterhalt leisten, sondern nur 252 EUR je Kind (so das Amtsgericht). Die Unterhaltsvorschusskasse widersprach, da von den Darlehensraten nur der Zins, nicht aber die Tilgung abziehbar sei, und verlangte mehr. Das daraufhin eingeschaltete Oberlandesgericht verglich die Konstellation mit der Situation, in der der Vater zur Miete wohnen würde. Nach dieser Rechnung würde noch weniger für die Kinder zur Verfügung stehen - nämlich nicht die Differenz aus Wohnwert (350 EUR) und Darlehen (322,50 EUR).
Den Gedanken trug auch der BGH mit. Zwar handele es sich bei der Tilgung des Immobilienkredits um eine Vermögensbildung - und diese sei zu Lasten eines Mindestunterhalts Minderjähriger eigentlich nicht gestattet. Aber in diesem Fall gehe dies nicht "zu Lasten" des Unterhaltsberechtigten, weil es ohne Zins und Tilgung den zu seinen Gunsten berücksichtigten Wohnvorteil in Form einer ersparten Miete gar nicht gäbe.
Hinweis: Anders sähe die Lage aus, wenn die Darlehensraten höher als die ersparte Miete wären. Das wird beim Mindestkindesunterhalt sehr kritisch gesehen und muss zur Prüfung führen, ob eine ungewöhnlich hohe Tilgung vereinbart wurde.
Quelle: BGH, Urt. v. 09.03.2022 - XII ZB 233/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Zugewinnausgleich: Unternehmensbewertung einer Rechtsanwaltskanzlei muss auch den Goodwill berücksichtigen
Ist ein Ehepartner selbständiger Unternehmer, stellt ihn die Scheidung vor das Problem, seinen Unternehmensanteil bewerten (lassen) zu müssen. Neben dem Sachwert und Ertragswert gibt es dabei auch den sogenannten "Goodwill" - den Preis für den guten Ruf des Unternehmens. Und eben jener war für den Bundesgerichtshof (BGH) in einem Fall entscheidend, in dem zwei Münchener Eheleute im Scheidungsverfahren über den Umfang der Auskunftspflicht über das Vermögen stritten.
Bevor man den Wert eines Unternehmens feststellen kann, benötigt man aussagekräftige Unterlagen. Der Stichtag für die Auskunft zum Endvermögen lag hier im Januar 2019. Zu diesem Zeitpunkt war der Ehemann als Rechtsanwalt Partner einer Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten und Steuerberatern gewesen. Zum September 2019 hatte der Ehemann den Partnern gekündigt, wechselte beruflich in eine andere Gesellschaft und bekam bei seinem Ausscheiden eine Abfindung. Er meinte nun, der Frau müsse die Höhe der Abfindung genügen, um zu beurteilen, welchen Wert sein Gesellschaftsanteil im Januar 2019 gehabt habe.
Das sah der BGH jedoch anders. Zum einem war der zeitliche Abstand von neun Monaten zwischen Stichtag und Ausscheiden zu groß, das war nicht mehr "zeitnah". Zum anderen musste die Abfindung nicht zwingend etwas über den wirklichen Anteilswert aussagen, weil damit der "Goodwill" nicht mitvergütet worden war. Denn seinen guten Ruf - und unter Umständen auch seine Mandanten - nahm der Anwalt ja mit in seine neue Gesellschaft.
Hinweis: Alle Argumente, die der Mann gegen die Werthaltigkeit seines Unternehmensanteils vorbrachte, waren dem BGH erstmal gleichgültig - diese könne er später noch einwenden, sobald die Gegenseite den Wert beziffert und den Ausgleich verlangt habe. Dasselbe galt für das Verbot der Doppelberücksichtigung in Zugewinn und Unterhalt. Zuerst waren Auskunft zu erteilen und Belege vorzulegen, denn das ist immer dann der Fall, wenn die Auskunft nicht von vorneherein völlig unerheblich für die Anspruchshöhe sein kann.
Quelle: BGH, Beschl. v. 23.02.2022 - XII ZB 38/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Bei Weigerung: "Pappe weg!": MPU-Forderung nach nicht geahndeter Trunkenheitsfahrt laut Bundesverwaltungsgericht rechtens
Wenn nach einer Trunkenheitsfahrt keine Ahndung der begangenen Ordnungswidrigkeit erfolgt ist, ist man noch lange nicht aus dem Schneider. Denn das folgende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zeigt, was passieren kann, wenn die Zuwiderhandlung mit hinreichender Gewissheit feststeht und sie in zeitlicher Hinsicht noch verwertbar ist.
Dem Kläger war 2008 und 2009 vom Strafgericht wegen Trunkenheitsfahrten mit Blutalkoholkonzentrationen (BAK) von 1,4 ‰ und 1,48 ‰ jeweils die Fahrerlaubnis entzogen worden. Aufgrund einer positiven Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU) wurde ihm im Juni 2016 die Fahrerlaubnis wiedererteilt. Am 01.09.2017 wurde der Kläger als Führer eines Kraftfahrzeugs unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt. Die bei ihm entnommene Blutprobe wies eine BAK von 1,04 ‰ auf. Der Kläger behauptete später, dass dies auf einem "Nachtrunk" beruht habe. Das gegen ihn eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt und der Vorgang an die Bußgeldstelle abgegeben. Ob ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet wurde und wie es gegebenenfalls endete, konnte nicht festgestellt werden. Der Vorgang wurde bei der Bußgeldstelle aus datenschutzrechtlichen Gründen gelöscht. Mit Schreiben vom 09.05.2019 forderte der beklagte Landkreis die Vorlage einer erneuten MPU. Nachdem der Kläger das Gutachten nicht beibrachte, entzog ihm der Beklagte die Fahrerlaubnis.
Das BVerwG hat wie die Vorinstanz die dagegen gerichtete Klage zurückgewiesen, da eine Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss gegeben war - auch wenn eine als Ordnungswidrigkeit einzustufende Trunkenheitsfahrt ordnungswidrigkeitsrechtlich nicht geahndet worden ist, aber mit hinreichender Gewissheit feststeht, dass der Betroffene die Zuwiderhandlung begangen hat und sie in zeitlicher Hinsicht noch verwertbar ist. Diese Voraussetzungen waren hier allesamt erfüllt. Dass das Oberverwaltungsgericht die Behauptung des Klägers, er habe den Alkohol erst nach Beendigung der Fahrt zu sich genommen, nicht als glaubhaft angesehen hat, ist nicht zu beanstanden. Im Hinblick auf die Tilgungsfristen für geahndete Zuwiderhandlungen bestanden auch gegen die Verwertung der Trunkenheitsfahrt vom 01.09.2017 keine Bedenken.
Hinweis: § 13 Satz 1 Nr. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung lautet: "Zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn a) (...) sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen, b) wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden. (...)" Das BVerwG hat nunmehr klargestellt, was unter einer solchen Zuwiderhandlung zu verstehen ist.
Quelle: BVerwG, Urt. v. 07.04.2022 - 3 C 9.21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Kollision im Einsatz: Im innerstädtischen Bereich gilt keine Rettungsgassenpflicht
Wissen Sie, wie man eine Rettungsgasse bildet? Und wie sieht es bei einem Notfall im innerstädtischen Bereich aus? Da gibt es nämlich Unterschiede. Im folgenden Fall war es am Landgericht Hamburg (LG), ebendiese nach einer Kollision eines im Einsatz befindlichen Funkwagens mit einem Pkw klarzustellen.
Ein Funkstreifenwagen näherte sich im Einsatz mit zugelassenen Sonderrechten (Blaulicht und Martinshorn) von hinten kommend einer Kreuzung. Er überholte die dort vor ihm haltenden Fahrzeuge links unter Benutzung der dortigen Sperrfläche. Eines der Fahrzeuge fuhr mit seinem Fahrzeug ein Stück nach links auf die Sperrfläche, um zwischen seinem und dem rechts von ihm befindlichen Fahrzeug eine "Rettungsgasse" zu bilden. Unmittelbar vor der Kreuzung kam es schließlich zur Kollision zwischen dem Funkstreifenwagen und dem Fahrzeug des späteren Klägers, bei der sein Fahrzeug im linken Seitenbereich und der Funkstreifenwagen im vorderen rechten Bereich beschädigt wurden. Der geschädigte Autofahrer war der Ansicht, keine Schuld an dem Unfall zu haben, da der Streifenwagen die Rettungsgasse hätte nutzen müssen, die extra gebildet worden sei. Die Versicherung des Streifenwagens verweigerte wiederum die Zahlung: Der Autofahrer habe erst kurz vor Ankunft des Einsatzwagens nach links gezogen, eine Kollision sei unvermeidbar gewesen.
Das LG entschied, dass der Autofahrer zu 60 %, der Streifenwagenfahrer zu 40 % hafte. Eine "Rettungsgasse" ist auf Autobahnen und Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung zu bilden. Diese Vorschrift gelte aber nicht für den innerstädtischen Verkehr. Hier gelten andere Maßstäbe. Im konkreten Fall sei anzunehmen, dass der Kläger zu dem Zeitpunkt seines Ausscherens nach links hätte erkennen können und müssen, dass sich das Einsatzfahrzeug bereits links eingeordnet hatte und durch die Benutzung der schraffierten Sperrfläche vorbeifahren wollte. Er hätte daher auf keinen Fall nach links ausscheren dürfen. Der Einsatzwagenfahrer sei hingegen für die konkrete Verkehrssituation - Befahren einer schraffierten Fläche im Kreuzungsbereich - zu schnell unterwegs gewesen. Auch im Einsatz müssen die öffentliche Sicherheit und Ordnung berücksichtigt werden.
Hinweis: Nach § 11 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung ist eine Rettungsgasse nur auf Autobahnen und Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrbahnen zu bilden. Die vom LG vorgenommene Haftungsverteilung ist daher nicht zu beanstanden.
Quelle: LG Hamburg, Urt. v. 18.02.2022 - 306 O 471/20(aus: Ausgabe 06/2022)
- Tiefergelegter Ferrari: Keine Haftung der Gemeinde für Straßenschäden
Wenn ein serienmäßig zugelassenes Fahrzeug auf einer Straße allein durch deren Befahren beschädigt wird, möchte man meinen, dass hier etwas mit der Bodenbeschaffenheit nicht gestimmt haben mag. Richtig, aber neben der Beschaffenheit des Straßenbodens nahm sich das Oberlandesgericht Koblenz (OLG) auch die des Fahrzeugbodens vor. Und dieser lag für die infrage stehende Straße zu tief.
Ein Mann befuhr mit seinem serienmäßig tiefergelegten Ferrari F40 eine innerörtliche Seitenstraße. Hierbei soll es zu einem Aufsetzen des Fahrzeugs gekommen sein, so dass an dem Ferrari ein Sachschaden von ca. 60.000 EUR festgestellt wurde. Ursächlich für die Beschädigung sollen nach Behauptung der Klägerin - die Versicherung des tiefersitzenden Fahrzeughalters - ein nicht nur geringfügig herausstehender Kanaldeckel sowie ein seitliches Gefälle der Fahrbahn zur Fahrbahnrinne hin gewesen sein. Die Gemeinde sollte haften.
Das OLG hat die Klage jedoch abgewiesen, da keine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorlag. Maßnahmen des Verkehrssicherungspflichtigen sind dann nicht geboten, wenn Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Benutzung der Straße und Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit etwaige Schäden selbst abwenden können. Wird eine Gefährdung durch risikoerhöhende Umstände - wie die Tieferlegung des Fahrzeugs - wesentlich (mit-)begründet, muss der Fahrzeugführer dies durch erhöhte eigene Aufmerksamkeit und Vorsicht kompensieren. Die Verkehrssicherungspflicht beinhaltet nicht die Pflicht, mit erheblichen Kosten für die Allgemeinheit dafür Sorge zu tragen, die Straße auch für "nicht alltagstaugliche" Fahrzeuge - wie einen Ferrari - gefahrlos nutzbar zu machen.
Hinweis: Unbeachtlich ist, dass das Fahrzeug serienmäßig tiefergelegt und für den allgemeinen Straßenverkehr zugelassen war. Die Zulassung eines Sportfahrzeugs mit entsprechend geringer Bodenfreiheit beinhaltet nicht die Zusicherung, dass damit alle öffentlichen Straßen gefahrlos benutzt werden können.
Quelle: OLG Koblenz, Beschl. v. 07.12.2021 - 12 U 1012/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Unklare Verkehrslage: Wer seine Sorgfaltspflicht außer Acht lässt, trägt eine Mitschuld
Einmal mehr zeigt der folgende Fall, dass eine unklare Verkehrslage alle Verkehrsteilnehmer zur erhöhten Vorsicht anhalten sollte. Denn nach Unfällen, die auf einer solchen Verkehrsituation beruhen, kommen Gerichte - wie hier das Oberlandesgericht München (OLG) - nicht umhin, zur Beantwortung der Schuldfrage den Taschenrechner herauszuholen. Denn nur einen Schuldigen gibt es in solchen Fällen meist nie.
Ein Autofahrer befuhr hinter einem Traktor eine Landstraße. Der Autofahrer setzte zum Überholen an, wobei er ignorierte, dass der Traktor seine Geschwindigkeit reduziert hatte und sich zur Mitte der Straße hin orientierte. Mit hoher Geschwindigkeit wollte der Mann den Traktor überholen, der in dem Moment unter Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht abbog. Es kam zur Kollision. Der Traktorfahrer verlangte infolgedessen Schadensersatz, da der Verstoß des Pkw-Fahrers, bei unklarer Verkehrslage mit überhöhter Geschwindigkeit zu überholen, dessen alleiniges Verschulden bedeute. Die Versicherung des Pkw-Fahrers sah das jedoch anders und ging von einer Mitschuld des Traktorfahrers aus, da dieser nicht nach hinten geschaut habe - denn dann hätte er den Pkw gesehen und den Abbiegevorgang abbrechen können.
Das OLG entschied, dass den Autofahrer eine Haftungsquote von 2/3 treffe und der Traktorfahrer 1/3 zu tragen habe, da sich beide Beteiligten sorgfaltswidrig verhalten haben. Der Autofahrer hat mit viel zu hoher Geschwindigkeit überholt und die Hinweise auf ein Abbiegen des Traktors (Herabsetzen der Geschwindigkeit und Einordnung zur Straßenmitte) ignoriert. Dadurch habe er den Unfall überwiegend verursacht. Den Traktorfahrer trifft dabei ebenfalls ein Verschulden: Er hat es versäumt, die doppelte Rückschaupflicht durchzuführen. Wenn er diese beachtet hätte, hätte er den sehr schnell herannahenden Wagen gesehen und vom Abbiegen absehen können. Unter Berücksichtigung der erhöhten Betriebsgefahr eines Traktors sei eine Mithaftung von 1/3 angemessen.
Hinweis: Eine unklare Verkehrslage liegt vor, wenn der Überholende nach den objektiv gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf. Allein eine Verringerung der Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs reicht hierfür aber nicht aus. Selbst wenn die Fahrweise auf ein Linksabbiegen hindeutet, nimmt die herrschende Meinung noch keine unklare Verkehrslage an, solange das Richtungszeichen fehlt.
Quelle: OLG München, Urt. v. 09.03.2022 - 10 U 6476/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Unzureichende Verkehrssicherung: Baumeigentümer haftet bei Astbruch nur sechs Monate nach einer Baumkontrolle
Bäume sind für viele Menschen magische Wesen. Unergründlich erscheint jedoch auch Fachleuten zeitweise das Innere der schatten- und sauerstoffspendenden Gewächse zu sein, wie im folgenden Fall des Landgerichts Koblenz (LG). Denn hier ging es um eine im Rahmen der Verkehrssicherung erfolgte Kontrolle eines Baums, der kurz darauf einen seiner Äste auf einen Pkw abwarf. Wer dafür haftbar zu machen ist, lesen Sie hier.
Ein Autofahrer parkte seinen Wagen auf einem Parkplatz, der zu einem Kletterwald eines Stadtwalds gehörte. Als er zu seinem Auto zurückkam, stellte er fest, dass ein ca. vier Meter langer Ast von einem in unmittelbarer Nähe stehenden Baum abgebrochen war und seinen Pkw beschädigt hatte. Der Mann wandte sich an die Kommune und forderte Schadensersatz. Seiner Ansicht nach lag eine Verkehrssicherungspflichtverletzung vor. Die Versicherung verweigerte jedoch die Zahlung mit dem Hinweis, dass die letzte Baumkontrolle erst sechs Monate zurücklag und befundlos war.
Das LG entschied, dass von einer unzureichenden Kontrolle auszugehen ist, wenn so kurz nach der Sichtung ein großer Ast herabfällt. Es stelle auch kein allgemeines Lebensrisiko dar, dass bei einer Kontrolle ein versteckter abgestorbener Ast übersehen werden kann. Nach Ansicht des Revierförsters und eines Sachverständigen hätte ein solcher Zustand bei einer ordnungsgemäßen Kontrolle auffallen müssen. Daher sei hier nicht sorgfältig kontrolliert worden - eine klare Pflichtverletzung.
Hinweis: Der Verkehrssicherungspflichtige genügt seiner Überwachungs- und Sicherungspflicht, wenn er die Bäume an Straßen und Wegen in angemessenen Zeitabständen auf Krankheitsanzeichen untersucht und notwendige Pflegemaßnahmen vornimmt. Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht liegt in solchen Fällen nur dann vor, wenn vom Verpflichteten Anzeichen verkannt oder übersehen worden sind, die nach der Erfahrung auf eine weitere Gefahr durch den Baum hinweisen.
Quelle: LG Koblenz, Urt. v. 15.02.2022 - 1 O 72/20(aus: Ausgabe 06/2022)
- Dienstanbieter in der Pflicht: Ehrverletzende Posts müssen auch in kerngleichen Varianten ohne erneuten Hinweis gelöscht werden
Ein Fall, der durch die analogen und digitalen Medien ging und zu beachtlichen Folgen für die Betreiber sozialer Netzwerke führte: Eine Politikerin wagte den augenscheinlichen Kampf gegen Windmühlen - und es war am Landgericht Frankfurt am Main (LG), ihre Unterlassungs- und Schmerzensgeldansprüche nach der Ehrverletzung durch Falschzitate zu bewerten.
Auf Facebook erschien ein Bild einer Bundestagsabgeordneten der Grünen, dem folgendes Zitat beigefügt war: "Integration fängt damit an, dass Sie als Deutscher mal türkisch lernen!" Dieses Zitat hatte die Grünen-Politikerin jedoch nicht getätigt. Deshalb verlangte sie von Facebook die Löschung des Eintrags. Da der Post zudem in verschiedenen Varianten mit leicht verändertem Layout oder veränderten Texten veröffentlicht wurde, klagte sie nun darauf, dass der Konzern es unterlässt, sogenannte Memes (Wort-Bild-Kombinationen) mit kerngleichem Inhalt auf Facebook öffentlich zugänglich machen zu lassen.
Die Abgeordnete hatte in Augen des LG durchaus einen Anspruch darauf, dass Varianten dieser Memes mit kerngleichem Inhalt gelöscht werden. Außerdem stand ihr wegen der Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Schmerzensgeldanspruch von 10.000 EUR zu. Ein Diensteanbieter muss zwar nicht ohne einen Hinweis alle ins Netz gestellten Beiträge auf eine eventuelle Rechtsverletzung prüfen. Nachdem die Abgeordnete aber konkret darauf hingewiesen hatte, dass die ihr zugeschriebene Äußerung ein Falschzitat ist, muss sie diesen Hinweis nicht für jeden weiteren Rechtsverstoß unter Angabe der jeweilgen URL wiederholen.
Hinweis: Immer dann, wenn Menschen falsch zitiert werden und diese Zitate auch noch verbreitet werden, ist ein rechtliches Vorgehen geboten. Helfen kann dabei der Rechtsanwalt des Vertrauens.
Quelle: LG Frankfurt am Main, Urt. v. 08.04.2022 - 2-03 O 188/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Fernabsatzverträge und ihre Ausnahme: EuGH verneint Widerrufsrecht bei Onlinekäufen von Veranstaltungstickets
Auch für Kultur- oder Sportveranstaltungen können Karten online gekauft werden. Wie es dabei mit dem Widerrufsrecht bei Internetverträgen aussieht, musste das Amtsgericht Bremen (AG) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen, als ein Ticketkäufer sich nach coronabedingter Konzertabsage nicht mit einem Gutschein abspeisen lassen wollte.
Peter Maffay live! - das wollte sich der Kläger in diesem Fall nicht entgehen lassen und kaufte online Tickets für ein Konzert in Braunschweig. Bei der entsprechenden Konzertagentur handelte es sich nicht um die Veranstalterin, sondern um eine Ticketsystemdienstleisterin. Statt Peter Maffay kam schließlich die Corona-Pandemie - das Konzert wurde abgesagt und der Mann erhielt einen Gutschein. Damit war er nicht einverstanden und verlangte den von ihm gezahlten Ticketpreis zurück. Schließlich klagte er beim AG, das dem EuGH den Fall vorlegte - das AG wollte wissen, ob der Käufer überhaupt ein Widerrufsrecht seines Vertrags hatte.
Zuerst einmal steht einem Verbraucher, der mit einem Unternehmer einen Fernabsatzvertrag geschlossen hat, laut EU-Richtlinie grundsätzlich für einen bestimmten Zeitraum das Recht zu, den Vertrag ohne Angabe von Gründen zu widerrufen. Die Frist beträgt normalerweise 14 Tage und kann sich verlängern, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wurde. Der EuGH stellte jedoch klar, dass beim Kauf unmittelbar sowohl beim Veranstalter als auch über einen Vermittler kein Widerrufsrecht besteht, sofern das wirtschaftliche Risiko der Ausübung des Widerrufsrechts den Veranstalter treffen würde. So ist ein Widerrufsrecht unter anderem in dem Fall ausgeschlossen, wenn eine Dienstleistung im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen erbracht wird und der Vertrag für die Erbringung einen spezifischen Termin vorsieht.
Hinweis: Bei sogenannten Haustürgeschäften oder bei Käufen im Internet gibt es ein Widerrufsrecht. Handelt es sich aber um einen Onlinekauf von Eintrittskarten für Kultur- oder Sportveranstaltungen, gibt es eine Ausnahme von der Ausnahme, nämlich keine Widerrufsmöglichkeit - kompliziert, aber wichtig zu wissen.
Quelle: EuGH, Urt. v. 31.01.2022 - C-96/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Klarname, E-Mail, Telefon: Tatbestand der Beleidigung zwingt Instagram zur Datenherausgabe
Wer auf Social-Media-Plattformen in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt wird, hat ein Recht darauf, gegen den Verletzer vorzugehen. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) musste klären, wie man als Geschädigte an den Namen und die Adresse des Täters kommt.
Eine unbekannte Person eröffnete einen Account bei Instagram mit dem Namen einer Frau mit dem Zusatz "X_wurde_gehackt". Sodann wurden Bilder von lediglich in Unterwäsche bekleideten jungen Frauen gezeigt, die sich angeblich dahingehend äußerten, an einer Vielzahl von sexuellen Kontakten interessiert zu sein. Die geschädigte Frau wurde von anderen Personen auf den Account hingewiesen, meldete das Konto, und es wurde gesperrt. Nun verlangte sie Auskunft über die Nutzerdaten der unbekannten Person - die sie schließlich einklagte.
Das OLG verurteilte Meta als Betreiberin von Instagram dazu, den Klarnamen, die E-Mail-Adresse und die Telefonnummer des Nutzers herauszugeben. Schließlich war eine strafrechtlich relevante Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfolgt. Die Schaffung des Fake-Accounts und das Einstellen der Fotos mit Kommentaren erfüllten den Tatbestand der Beleidigung. Durch das Erstellen des Fake-Accounts und Hochladen der Fotos nebst Kommentaren wurde suggeriert, die Antragstellerin wolle sich auf diese Weise zur Schau stellen und den Besuchern der Seite ihr sexuelles Interesse mitteilen.
Hinweis: Im Fall der Fälle kann ein versierter Rechtsanwalt weiterhelfen. Wichtig ist, dass man sich nicht alles gefallen lässt, was im Internet passiert. Denn immer mehr zeigt die Rechtsprechung, dass auch große Konzerne hier geltende Gesetze einzuhalten haben.
Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 23.02.2022 - 9 Wx 23/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Negativbewertung zulässig: Wer sich beruflich aktiv auf Bewertungsportalen bewegt, muss scharf formulierte Kritik hinnehmen
Wer als Gewerbetreibender auf Bewertungsplattformen zu Hause ist, muss negative Kommentare hinnehmen - auch Immobilienmakler. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG) war im Folgenden damit beauftragt, über eine Bewertung zu befinden, die von einem Interessenten stammte, der nicht zum Kunden geworden ist und seinen Ärger darüber im Netz kundtat.
Ein Immobilienmakler, der von einem Kunden aufgefordert wurde, wesentlich unter dem geforderten Preis liegende Angebote an den Verkäufer weiterzugeben, lehnte das mit dem Hinweis ab, dass er keine unseriösen Angebote weitergebe. Schließlich führte der Streit dazu, dass der Kunde den Makler auf der Internetplattform "Google Places" schlecht bewertete. Er führte dabei unter anderem aus: "Ich persönlich empfand Herrn (...) als arrogant und nicht hilfsbereit. Herr (...) sagte mir, ,Kunde ist man, wenn man gekauft hat‘. Offensichtlich nicht vorher, so habe ich mich auch gefühlt." Gegen diese Bewertung klagte der Immobilienmakler und verlangte die Unterlassung der Verbreitung dieser Bewertungen. Mit seiner Klage hatte er allerdings keinen Erfolg.
Das OLG war der Auffassung, dass sich ein Immobilienmakler, der zum Zweck der Förderung seiner Geschäfte aktiv den Auftritt in einem Bewertungsportal gesucht hat, Kritik an seiner gewerblichen Leistung in der Regel auch dann gefallen lassen müsse, wenn sie scharf formuliert sei. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen in der Regel hingenommen werden - auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind.
Hinweis: Natürlich können von einer negativen Bewertung Betroffene dagegen vorgehen. Erfolgversprechend ist es zumindest dann, wenn eine Bewertung gegen geltendes Recht oder die Richtlinien des Bewertungsportals verstößt.
Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 16.02.2022 - 9 U 134/21(aus: Ausgabe 06/2022)
- Neues zur Berufsunfähigkeitsrente: Auch Versicherte mit psychosomatischen Leiden können Leistungsanspruch haben
Eine Berufsunfähigkeitsversicherung ist wichtig. Doch ist es hinreichend bekannt, dass sich Versicherungen dann und wann im Schadensfall zieren. Vor dem Landgericht hatte die Klage des Versicherten auf Leistung nach einer Vielzahl von Gutachten keinen Erfolg; auf psychiatrischem Gebiet war offengeblieben, ob ein bewusstseinsnaher, willentlicher Prozess vorliege oder aber unbewusste Mechanismen die Schmerzverarbeitung bestimmten. Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) sah das Ganze jedoch anders aus.
Ein Arbeitnehmer war als Flugzeugabfertiger tätig. Er hatte schon vor mehreren Jahren eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Als das Arbeitsverhältnis wegen gesundheitlicher Beschwerden mit einem Aufhebungsvertrag endete, wollte der Arbeitnehmer sodann Leistungen aus seiner Berufsunfähigkeitsversicherung erhalten. Doch diese lehnte die Leistungen ab: Es seien keine somatischen oder psychischen Erkrankungen feststellbar.
Nach Einholung eines internistisch-rheumatologischen Gutachtens und aufwendiger Diagnostik stand für das OLG zwar fest, dass sowohl eine rheumatische Erkrankung als auch eine Fibromyalgie ausgeschlossen werden können - es wurden jedoch von dem Sachverständigen auf somatischem Gebiet objektiv nachweisbare Beeinträchtigungen in einem Umfang von 40 % festgestellt. Hieran anknüpfend war der Sachverständige für psychosomatische Medizin zu der überzeugenden Feststellung einer "chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren" gelangt, die zu Leistungseinbußen von deutlich mehr als 50 % im zuletzt ausgeübten Beruf führten. Das OLG verurteilte die Versicherung daher zur Leistung aus der Berufungsunfähigkeitsversicherung.
Hinweis: Nach diesem Urteil können Betroffene mit psychosomatischen Beschwerden darauf hoffen, auch in den Genuss von Zahlungen einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu kommen. Doch Vorsicht: Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Die Beklagte kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision beim Bundesgerichtshof begehren.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 23.02.2022 - 7 U 199/12(aus: Ausgabe 06/2022)