- Entlastung der Mutter: Piloten wird trotz unflexibler Freizeitregelung durch Arbeitgeber vermehrter Kindesumgang zugemutet
Während in Umgangsverfahren meist der eine Elternteil weniger Umgang der Kinder mit dem anderen verlangt, verklagte vor dem Oberlandesgericht Nürnberg (OLG) eine Mutter den Vater des gemeinsamen Kindes darauf, dass er sich mehr um seine Kinder kümmern solle. Das OLG musste nun sehen, ob und wie ein umfangreicherer Umgang im Interesse aller - vor allem aber naturgemäß dem der Kinder - möglich ist. Das Amtsgericht Fürth (AG) legte dabei vor.
Der Vater war Pilot mit einer Vollzeitstelle, die Mutter Flugbegleiterin mit einer 2/3-Stelle. Wegen der flexiblen Arbeitszeiten beider wurde im notariellen Scheidungsfolgenvertrag nur vermerkt, dass der Vater "nach Absprache" 1/3 der Betreuungszeiten übernehmen solle. Beide Elternhäuser waren in Fürth, die Kinder konnten vom Vater aus sogar morgens zur Schule gehen. Für die Mutter zeigte sich die Flexibilität jedoch zunehmend als unpraktikabel, da die Absprachen nicht mehr funktionieren würden - sie beantragte daher sechs Jahre später beim Familiengericht, dass die Kinder 14-tägig im Zeitraum von Donnerstag nach Schulschluss bis Montag vor Schulbeginn und zudem an zwei Tagen nach flexibler Absprache beim Vater sein sollen. Der Vater argumentierte damit, dass er im Gegensatz zur teilzeitarbeitenden Mutter in Vollzeit arbeite. Deshalb sei es ihr zuzumuten, dass sie sich voll und ganz nach seinen Bedürfnissen richte, die keine feste Regelung zuließen. Er könne lediglich einmal im Monat drei zusammenhängende Tage freinehmen. Mehr - zweimal im Monat fünf Tage am Stück - habe der Arbeitgeber abgelehnt. Eine Fremdbetreuung der Kinder während der Umgangszeiten sei in den Augen des Vaters widersinnig.
Das AG hatte den Umgang mit dem Vater daraufhin derart geregelt, dass dieser 14-tägig donnerstags nach Schulschluss bis Montag vor Schulbeginn stattfindet. In der anschließenden Anhörung vor dem OLG erzählten die Kinder, dass die Umgangswochenenden seit dem amtsgerichtlichen Beschluss auch so durchgeführt worden seien. Zwar sei ihr Vater dann nicht immer durchgehend zu Hause, dies sei jedoch unproblematisch. Sie hätten ein gutes Verhältnis zur Stiefmutter und zu deren Tochter.
Daher bestätigte das OLG die Entscheidung des AG und stellte darauf ab, dass Umgangskontakte nicht nur die Funktion haben, die Vater-Kind-Bindung zu fördern, sondern auch, die berufstätige Mutter zu entlasten und die tatsächliche Betreuung der Kinder in einem zu bestimmenden Umfang aufzuteilen. Auch die Mutter müsse ja gelegentlich Fremdbetreuung in Anspruch nehmen und diese organisieren. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die Kinder sich im väterlichen Haushalt auch dann wohlfühlten, wenn dieser gar nicht zuhause war.
Hinweis: Wenn ein Gericht den Umgang regelt, muss der Beschluss auch vollstreckbar sein. Deshalb kann es flexible Lösungen nur geben, wenn die Eltern sich darüber einig sind.
Quelle: OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.01.2024 - 9 UF 744/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Lebenslanger Unterhalt: 14-jährige Ehedauer erzeugt auch im Alter nacheheliche Verantwortung
Eine Folge der Eheschließung und des ehelichen Zusammenlebens ist die begründete Mitverantwortung, die der leistungsfähige Ehepartner gegenüber dem Unterhaltsbedürftigen trägt. Dieser Mitverantwortung kann man sich im Sinne der nachehelichen Solidarität nicht entziehen. Daher erging es der bessergestellten Frau im folgenden Fall vor dem Oberlandesgericht Hamm (OLG) nicht anders als vielen Männern zuvor.
Als die Eheleute 2007 heirateten, waren beide schon über 50 Jahre alt. Sie war Beamtin, er selbständig und ab 2013 insolvent, so dass die Frau bei der Scheidung 2023 durch den Versorgungsausgleich einen Teil ihrer Pension an den Mann verlor. Zu diesem Zeitpunkt waren beide Eheleute schon in Pension bzw. in Rente. Nun begehrte der Mann zusätzlich einen lebenslangen Unterhalt von rund 1.300 EUR monatlich. Das Familiengericht Olpe lehnte diesen Antrag ab: Der Mann habe bereits durch den Versorgungsausgleich alle ehebedingten Nachteile ersetzt bekommen.
Anders sah dies das OLG - es sprach dem Mann den sogenannten Altersunterhalt nach § 1571 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der beantragten Höhe zu. Mit Erreichen des Rentenalters müsse er nicht mehr arbeiten, auch wenn das bei Selbständigen oft üblich sei. Auf seine konkrete gesundheitliche Situation, die streitig war, kam es daher nicht an. Auch eine Antwort auf die Frage, ob ehebedingte Nachteile entstanden seien, sei hier unwichtig, da der Altersunterhalt davon unabhängig sei. Zudem sei dem Mann auch nicht vorwerfbar, dass er keine eigene Altersvorsorge betrieben habe. Dieses Verhalten habe der Mann bereits vor der Ehe an den Tag gelegt - dieser Umstand war der Frau nach Aktenlage auch bekannt. Jedenfalls wurde von ihr nicht vorgetragen, dass der Mann ihr vorgegaukelt habe, eine Altersversorgung zu besitzen.
Eine Frage, die durchaus noch von Interesse war, bezog sich auf das Alter der beiden bei Eheschließung: War der § 1571 BGB womöglich deshalb nicht anwendbar, weil der Mann nicht im Laufe der Ehe alt geworden war, sondern erst mit über 50 geheiratet hatte? Nein - so das OLG -, auch das sei unerheblich und käme ebenso wenig infrage wie eine Befristung. Eine Befristung des Altersunterhalts ist auch ohne ehebedingte Nachteile nicht der gesetzliche Regelfall. Durch die Ehedauer von rund 14 Jahren und die Insolvenz des Mannes sei eine wirtschaftliche Abhängigkeit von der Frau entstanden, die eine nacheheliche Solidarität erzeugt habe. In seinem jetzigen Alter sei ihm eine Absenkung des gewohnten gehobenen Lebensstandards nicht zuzumuten, daher wurde der Anspruch auch nicht in der Höhe begrenzt.
Hinweis: Allerdings wendete das OLG die Regel an, dass mit Erreichen des Rentenalters auch vorhandenes Kapital zu verzehren ist - das waren hier 65.000 EUR aus einem Hausverkauf. Unstreitig war das Haus nämlich als "Altersvorsorge" gedacht gewesen.
Quelle: OLG Hamm. Beschl. v. 21.12.2023 - 4 UF 36/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Mehr als 1.600 EUR: Kindesunterhalt bei überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen
Die Frage nach Angemessenheit und Notwendigkeit stellt sich vor Gericht besonders oft, wenn es um Unterhaltsforderungen geht. Aus diesem Grund gibt es die Düsseldorfer Tabelle (DT), die seit 1962 als Leitlinie bei Unterhaltsfragen gilt. Seitdem wird sie stetig an die sich verändernden Lebensumstände angepasst, so auch hinsichtlich der Einkommensgruppen. Dieser Fall des Oberlandesgerichts München (OLG) zu einem sehr solventen, unterhaltspflichtigen Vater landete schließlich vor dem Bundesgerichtshof (BGH) und wird in einer Frage auch wieder ans OLG zurückgehen.
Die Mutter einer 2011 geborenen Tochter aus geschiedener Ehe hatte im Jahr 2019 einen monatlichen Kindesunterhalt von 4.500 EUR beantragt. Ihr Bedarf sei exklusiv: Die hohen Wohnkosten, der Reitsport des Kindes, Kleidung und Urlaube - all das hielt sie für angemessen. Der Vater hatte sich zudem als "unbegrenzt leistungsfähig" erklärt, sein offensichtlich über 11.000 EUR liegendes Nettoeinkommen wurde dabei aber nicht näher thematisiert. 2018 hatte der Vater den damaligen Höchstsatz der Düsseldorfer Tabelle von 160 % des Mindestunterhalts anerkannt. 2020 hatte der BGH dann in einem anderen Fall entschieden, dass man die Tabelle rechnerisch nach oben ergänzen könne, wenn der Unterhaltspflichtige über mehr als 5.500 EUR bereinigtes Nettoeinkommen verfüge. Daraufhin erkannte der Vater 2021 im Verfahren 272 % des Mindestunterhalts an - einen Betrag, den es in der DT 2021 zwar nicht gab, den man sich aber durch Fortschreibung selbst errechnen konnte. 2022 war die DT schließlich um Einkommensgruppen bis 11.000 EUR erweitert worden, was 200 % des Mindestunterhalts entsprach. Daraufhin nahm der Vater sein Anerkenntnis zurück und wollte "nur noch" den neuen "Höchstsatz" von 200 % zahlen. Die Reitsportkosten wolle er sowieso nicht mittragen, da die Mutter allein über das teure, gefährliche und zeitraubende Hobby entschieden habe, obwohl er gemeinsam mit der Mutter das Sorgerecht innehabe.
Das OLG hatte den Einwand des Vaters für zutreffend gehalten, dass er als Sorgeberechtigter hätte mitentscheiden müssen, ob das Kind ein gefährliches und teures Hobby betreiben dürfe. Deshalb legte das OLG ihm die Reitsportkosten nicht zusätzlich auf. Anders sah dies jedoch der BGH: Zwar könne man es so sehen, dass Entscheidungen wie ein teures Hobby bei gemeinsamem Sorgerecht gemeinsam getroffen werden müssen. Jedoch habe der Vater sich in seinen Schriftsätzen gar nicht gegen das Reiten als solches, sondern nur gegen die Intensität und die Kosten ausgesprochen. Das sei als stillschweigendes Zustimmen "dem Grunde nach" zu werten. Außerdem könne es sein, dass das Kind vom Reitsport so stark profitiere, dass die Verweigerung der Zustimmung rechtsmissbräuchlich sei. Im Ergebnis befand der BGH, dass die Kleidung, Wohnen und Urlaube mit den 272 % vom Mindestunterhalt bezahlt werden können, und gab das Verfahren zwecks Aufklärung beim Mehrbedarf "Reitsport" zurück ans OLG.
Hinweis: 272 % des Mindestunterhalts für ein 2011 geborenes Kind betragen im Jahr 2024 monatlich 1.629,40 EUR.
Quelle: BGH, Beschl. v. 20.09.2023 - XII ZB 177/22(aus: Ausgabe 03/2024)
- Unwissenheit schützt nicht: Unterhaltsschulden können lange vollstreckt werden
Wer nicht rechtzeitig etwas sagt, der kriegt auch nichts! So zusammengefasst verhält es sich oftmals, wenn Ansprüche verjährt sind. Im Folgenden musste das Oberlandesgericht Bremen (OLG) klären, ob es bei titulierten Kindesunterhaltsansprüchen einen für eine solche Verwirkung erforderlichen Zeitmoment gibt. Sprich: Erledigen sich Ansprüche aus einem derartigen Titel, wenn der Gläubiger sie nicht einfordert - und wenn ja, ab wann?
Ein Vater war vom Familiengericht zu Kindesunterhalt für seinen minderjährigen Sohn verurteilt worden, zahlte aber nicht. Die Unterhaltsvorschusskasse (Jugendamt) ging daher in Vorleistung und holte sich das Geld beim Vater zurück. Doch zwischem dem, was die Unterhaltsvorschusskasse zahlte, und dem, was der Vater hätte zahlen müssen, klaffte eine monatliche Lücke - und summierte sich schließlich zu einem Schuldenberg von über 3.000 EUR. Dann wurde der Sohn volljährig und vollstreckte gegen seinen Vater.
Vor dem OLG ging es nun um die Frage, ob der Anspruch verwirkt worden war, da jahrelang niemand die Differenz explizit eingefordert hatte. Ein solcher Verwirkungseinwand setzt voraus, dass mindestens mehr als ein Jahr nichts verlangt wurde (Zeitmoment) und dass der Unterhaltsschuldner sich darauf einrichten durfte, dass der Unterhaltsgläubiger sein Recht nicht mehr durchsetzen werde (Umstandsmoment). Aus bloßer Untätigkeit des Gläubigers entstehen solche besonderen Umstände jedenfalls nicht. Der Vater trug dazu vor, er habe nach Einschaltung der Unterhaltsvorschusskasse geglaubt, er müsse nur den geringen Betrag an die Kasse zahlen, nicht mehr den höheren an den Sohn. Das mag er wirklich geglaubt haben - aber Unkenntnis schützt bekanntlich nicht vor Rechtsfolgen. Solange ein Titel "in der Welt" ist, gilt dieser, und eigene Gedanken dazu, ob dieser überhaupt noch gelten möge, sind fehl am Platz. Andere Umstände, aus denen er hätte schließen können, sein Sohn bzw. dessen Mutter verzichte auf die Differenz, gab es für das OLG in nachvollziehbarer Weise nicht.
Hinweis: Die Differenz zwischen tituliertem Unterhalt und der Leistung der Unterhaltsvorschusskasse liegt daran, dass die Unterhaltsvorschusskasse nur den Mindestunterhalt leistet und davon noch das gesamte Kindergeld abzieht.
Quelle: OLG Bremen, Beschl. v. 14.12.2023 - 5 UF 36/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Volljährige Tochter: Kein Unterhalt, wenn zweite Ausbildung Resultat einer beruflichen Umorientierung ist
Eltern schulden ihren volljährigen Kindern Unterhalt während einer Ausbildung. Zu Konflikten kommt es, wenn das Kind mit seinem ersten Abschluss nicht zufrieden ist und für eine weitere Ausbildung weiterhin Unterhalt verlangt. Im Fall vor dem Oberlandesgericht Oldenburg (OLG) war daher zu prüfen, ob es sich um eine einheitliche Ausbildung handelt, für deren letztlich angestrebte Qualifikation der erste Abschluss ein sinnvoller Zwischenschritt war, oder um zwei voneinander unabhängige Ausbildungen.
Hier hatte die Tochter nach dem Realschulabschluss 2018 eine kaufmännische Ausbildung absolviert, mit deren Abschluss sie automatisch ihr Fachabitur im Bereich Wirtschaft erlangte. Im Anschluss verbrachte sie zur Erweiterung ihrer Sprachkenntnisse einen dreimonatigen Sprachurlaub in Spanien. Nach ihrer Rückkehr meldete sie sich im Oktober 2021 zunächst arbeitssuchend, woraufhin sie über das Jobcenter den Hinweis auf die Möglichkeit erhielt, mit ihrem Abschluss Mediendesign zu studieren. Zum 01.01.2022 begann sie dieses Studium. Da ihre Mutter zu wenig verdiente, um ihr Unterhalt zu leisten, verklagte sie ihren Vater.
Das begonnene Studium ist auch in den Augen des OLG eine Zweitausbildung und keine fachliche Ergänzung. Daher bestand kein Unterhaltsanspruch der Antragstellerin gegenüber ihren Eltern. Im Unterschied zu Abiturienten, bei denen Eltern immer mit einem Studienwunsch nach der Lehre rechnen müssen, sei dies nach dem Realschulabschluss so, dass die Eltern frühzeitig - schon vor der Ausbildung - vorgewarnt werden müssten, dass sie sich auf einen längeren Ausbildungsweg einstellen müssen. Zudem müsse ihnen dieser auch wirtschaftlich zumutbar sein. Dabei habe das Kind keine beliebige Studienauswahl, sondern müsse einen engen sachlichen Zusammenhang darlegen. Hier reiche es nicht aus, dass das kaufmännische Wissen und die Fremdsprachenkompetenz "nützlich" für das Studium oder den späteren Beruf als Mediendesignerin seien. Solche Kenntnisse seien grundsätzlich für jeden Beruf nützlich, was eine solche Ausbildung aber nicht zu einem unterhaltsrechtlichen Freibrief für jedwedes anschließende Studium mache. Auf die Gerichte wirkte der Ausbildungsweg der Tochter eher so, als ob sie sich nach der Arbeitslosigkeit und Beratung durch das Jobcenter umorientiert habe - diese durchaus legitime Entscheidung beinhalte jedoch kein Recht auf weiteren Unterhalt.
Hinweis: Für die Entscheidung wird bei der Abwägung eine Rolle gespielt haben, dass die Studentin Bafög bekam und der Unterhaltsanspruch daher nicht existentiell von Bedeutung war, während der Vater mit knapp 2.500 EUR netto kein wohlhabender Mann war. Der Tochter wäre anzuraten gewesen, ihr Vorhaben direkt nach dem Schulabschluss nachweislich mit dem Vater abzusprechen, damit dieser in der Zeit, in der er ihr wegen des Ausbildungsentgelts keinen Unterhalt zahlen musste, Rücklagen hätte bilden können.
Quelle: OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.12.2023 - 3 UF 127/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Anscheinsbeweis: Wer bei Verlassen der Parkbucht in einen Unfall verwickelt ist, haftet meist vollständig
Das Prinzip "Trau, schau, wem!" sollte jeder motorisierte Verkehrsteilnehmer beim Ein- und Ausparken befolgen. Denn wenn im Anschluss der genaue Unfallhergang ungeklärt bleibt, bleibt einem Gericht wiederum nichts anderes übrig, als bei seiner Entscheidung dem sogenannten Anscheinsbeweis den Zuschlag zu erteilen. Genau so erging es dem Amtsgericht Hanau (AG) im folgenden Fall.
Ein Mann wollte aus einer Parkbucht heraus in den fließenden Straßenverkehr einfahren. Dort befand sich allerdings bereits eine Frau mit ihrem Wagen, die bereits in selbiger Fahrtrichtung unterwegs war. So kam es auch hier, wie es kommen musste - und zwar zur Kollision. Was ebenfalls nicht ungewöhnlich war: Vor Gericht waren sich beide Unfallbeteiligten über den Hergang des Ganzen uneins und machten dazu unterschiedliche Angaben.
Das AG hat der Klage der Frau auf Schadensersatz dennoch stattgegeben. Auf die Klägerin selbst entfällt kein Mithaftungsanteil, da das Gericht davon ausgegangen ist, dass der Verkehrsunfall vollständig von dem einfahrenden Fahrzeug verursacht wurde. Zwar ließ sich das Geschehen nicht mehr aufklären, allerdings habe derjenige, der vom Straßenrand in den Verkehr einfährt, besonders darauf zu achten, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet. Das Gericht war nach einer Gesamtwürdigung der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass sich der Unfall im engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Einfahren des beklagten Fahrers von einer Parkbucht auf die Fahrbahn ereignete. Aufgrund der zeitlichen und örtlichen Nähe des Unfallgeschehens zu dem Einfahren des zuvor parkenden Fahrzeugs in den Straßenverkehr spreche daher der Beweis des Anscheins dafür, dass dessen Fahrer nicht ausreichend auf den Verkehr geachtet und somit den Unfall herbeigeführt habe. Darauf deute zudem hin, dass seine Version des Unfallgeschehens, er sei bereits einige Zeit auf der Straße gefahren, mit dem Schadensbild nicht in Einklang zu bringen sei.
Hinweis: Der Anscheinsbeweis setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Gemäß § 10 Satz 1 Straßenverkehrs-Ordnung muss sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Quelle: AG Hanau, Urt. v. 05.06.2023 - 39 C 329/21 (19)(aus: Ausgabe 03/2024)
- BGH prüft Beweiserleichterung: OLG Celle bejaht Anscheinsbeweis bei berührungsloser Unfallverursachung
Das Oberlandesgericht (OLG) Celle wagt mit seiner folgenden Entscheidung ein womöglich richtungsweisendes Urteil, das Erleichterung in ähnlich geartete Fälle bringen könnte. Und die gibt es nicht selten. Denn schließlich haben selbst berührungslose Stürze nach Notbremsungen oftmals böse Folgen.
Ein Mann fuhr auf seinem Motorrad eine Straße entlang, und wie so oft auf Straßen üblich, fuhr vor ihm ein Pkw. Auf der Gegenfahrbahn stand indes in einer Kurve ein Müllfahrzeug, das wiederum die entgegenkommende Frau - die spätere Beklagte - mit ihrem Pkw passieren wollte. Dafür fuhr sie dann auch auf die Gegenfahrbahn. Um eine Kollision mit dem Fahrzeug der Frau zu vermeiden, bremste der vor dem Motorradfahrer fahrende Pkw stark ab, so dass der Biker eine Vollbremsung vollzog. Dabei geriet er ins Rutschen, stürzte und verletzte sich, ohne in diesem Verlauf jedoch auf das vorausfahrende Kfz aufzufahren. Erstinstanzlich wurde die Klage des Gestürzten auf Schadensersatz mit der Begründung abgewiesen, er sei allein schuld an seinem Sturz gewesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte jedoch Erfolg - zumindest teilweise.
Wo bislang aber galt, dass nach berührungslosen Unfällen kein Verursachungsbeitrag nach Anscheinsbeweisgrundsätzen festgestellt werden darf, sieht es das OLG Celle hier anders und entschied, dass der Kläger 40 % seines Schadens ersetzt verlangen kann. Die Beklagte hafte mit, weil sie ohne vorsichtige Prüfung an der durch den haltenden Müllwagen geschaffenen Engstelle vorbeigefahren war. Es habe dabei nicht ausgereicht, langsam den Müllwagen zu überholen. Die Frau habe vielmehr den Gegenverkehr überprüfen müssen, bevor sie zum Überholen ansetzte. Jedoch spricht der Anscheinsbewies auch für einen Verkehrsverstoß des Klägers, auch wenn es nicht zu einer Kollision zwischen Motorrad und vorausfahrendem Fahrzeug kam. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht rechtzeitig, auf die wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren und nur durch einen vorherigen Sturz eine Kollision mit dem Vorausfahrenden zu verhindern, spricht wie im Fall einer Auffahrkollision die Lebenserfahrung dafür, dass die Ursache für den Sturz das eigene Fehlverhalten ist - infolge zu geringen Abstands oder Unaufmerksamkeit. Eine überwiegende Haftung der Beklagten kam nach Ansicht des OLG Celle daher nicht in Betracht. Denn der Kläger trage einen deutlich höheren Verantwortungsanteil als die Beklagte. Erst sein sorgfaltswidriges Verhalten habe zum Sturz geführt. Dabei sei zu beachten, dass der Vorausfahrende auch rechtzeitig habe bremsen können, ohne dass es zu einer Kollision mit dem ihm vorausfahrenden und zuerst bremsenden Pkw kam.
Hinweis: Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) wurde zugelassen, weil sich das Gericht hier gegen die Meinungen zweier OLGs (OLG München, NJOZ 2018, 661; OLG Hamm, DAR 2023, 622) stellt, die die Auffassung vertreten, dass bei berührungslosen Unfällen ein Verursachungsbeitrag nach Anscheinsbeweisgrundsätzen nicht festgestellt werden darf. Sollte der BGH die Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bejahen, würde dies die Beweisführung künftig erleichtern.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 - 14 U 32/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Haftungsfrage bei Mehrfachversicherung: Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger gilt rechtlich als Zugvorgang
Dass die Unfallverursacherin im folgenden Fall des Bundesgerichtshofs (BGH) überversichert war, indem sie sowohl ihren Pkw als auch ihren daran angebrachten Anhänger einzeln versicherte, kann hier außer Acht gelassen werden. Die interessante Frage, die aus diesem Umstand hervorging, war, ob beide Versicherer den Schaden im sogenannten Innenverhältnis hälftig teilen mussten oder gar einer von ihnen komplett zu haften habe.
Eine Autofahrerin war mit ihrem Auto samt Anhänger unterwegs, Zugfahrzeug und Anhänger waren bei unterschiedlichen Versicherungen versichert. Beim Rückwärtsfahren verursachte die Fahrerin schließlich einen Schaden in Höhe von knapp 1.000 EUR. Die Haftpflichtversicherung des Pkw ersetzte den Schaden am Fahrzeug des Dritten und forderte daraufhin die Hälfte des regulierten Schadens von der Anhängerversicherung zurück. Sie war der Ansicht, dass beide Versicherungen als Gesamtschuldner haften und somit im Innenverhältnis zwischen den Versicherern die Anhängerversicherung die Hälfte mittragen müssen. Das sah die betreffende Versicherung anders. Durch das Rückwärtsfahren sei die Gefahr durch den Anhänger nicht erhöht gewesen, daher scheide ein Anspruch aus.
Der BGH gab der Anhängerversicherung Recht und wies zunächst darauf hin, dass eine Mehrfachversicherung des Gespanns vorliege. Beide Versicherer haften dem geschädigten Dritten gegenüber als Gesamtschuldner und hafteten deshalb im Außenverhältnis zunächst vollständig. Im sogenannten Innenverhältnis haftet nach den gesetzlichen Vorschriften aber nur der Versicherer der Zugmaschinen, also die Kfz-Versicherung. Eine Ausnahme bestehe dann, wenn sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht als durch das Zugfahrzeug - beispielsweise wenn der Anhänger wegen seiner besonderen Länge oder Größe die Gefahr erhöhe. Das Ziehen des Anhängers allein verwirklicht jedoch in der Regel keine höhere Gefahr, wobei der BGH klarstellt, dass auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ein "Ziehen" darstelle. Nicht relevant hingegen ist, ob der Anhänger gezogen oder geschoben werde (z.B. während eines Rangiervorgangs).
Hinweis: Verursacht ein mit einem Zugfahrzeug verbundener Anhänger einen Schaden, haften der Halter des Zugfahrzeugs und der Halter des Anhängers als Gesamtschuldner. Im Außenverhältnis kann sich der Geschädigte seinen Anspruchsgegner aussuchen, also entweder die Versicherung des Zugfahrzeugs oder die Versicherung des Anhängers in Anspruch nehmen. Dies gilt auch dann, wenn die Halter von Zugfahrzeug und Anhänger wie hier nicht identisch sind. Die Entscheidung des BGH betrifft das Innenverhältnis zwischen Anhänger- und Zugfahrzeugversicherung. Hierfür hat der BGH klargestellt, dass auch beim Rückwärtsfahren grundsätzlich die Versicherung des Zugfahrzeugs allein haftet.
Quelle. BGH, Urt. v. 14.11.2023 - VI ZR 98/23
(aus: Ausgabe 03/2024)
- Unklare Unfallsituation: Kann selbst ein Sachverständiger keine Klärung herbeiführen, kommt es zur Schadensteilung
Zwei Autos stehen hintereinander, beide zur selben Fahrtrichtung ausgerichtet. Dann ist das eine hinten, das andere vorn beschädigt. Was hier eindeutig war: Eine Kollision der beiden Pkw hatte stattgefunden. Alles andere jedoch musste das Amtsgericht Essen (AG) klären - oder es zumindest versuchen.
Beide beteiligten Parteien verlangten vor dem AG Schadensersatz. Der eine Beteiligte meinte, es habe sich um einen Auffahrunfall gehandelt, da hafte der Auffahrende somit auch dem Anscheinsbeweis zufolge. Der andere Beteiligte forderte ebenfalls Schadensersatz, er sei gar nicht aufgefahren! Vielmehr habe der andere zurückgesetzt und sei ihm deshalb in die Fahrzeugfront gefahren. Sachverständige zuckten hier leider auch nur mit den Schultern, da die Schäden keine weitere Klarheit bringen konnten, welche der beiden Parteien nun die Wahrheit sagte. Was den Laien womöglich schmunzeln lässt, ist vor Gericht jedoch bei Weitem keine Seltenheit - und daher griff das AG zur naheliegenden Maßnahme.
Das AG entschied, dass der Schaden zu teilen sei. In diesem Fall sei der Anscheinsbeweis nicht anzuwenden. Weder ein unachtsames Rückwärtsfahren noch ein unachtsames Auffahren sei nachgewiesen oder ausgeschlossen, da selbst der Sachverständige dazu keine eindeutigen Angaben habe machen können. Daher sei der Unfallhergang nicht aufklärbar - eine Schadensteilung sei angemessen.
Hinweis: Kann ein Unfallhergang weder durch Zeugen noch durch ein Unfallrekonstruktionsgutachten aufgeklärt werden, ist regelmäßig eine hälftige Schadensverteilung vorzunehmen.
Quelle: AG Essen, Urt. v. 21.07.2023 - 29 C 152/22(aus: Ausgabe 03/2024)
- Wurzelschaden stoppt Rennradler: Kein Schadensersatz, wenn Hindernis für Normalfahrer deutlich erkennbar ist
Wer kennt die liebevolle, mütterliche Abschiedsfloskel nicht, bloß schön vorsichtig zu fahren und gut auf sich aufzupassen? Hätte der Radler im folgenden Fall diesen Ratschlag doch nur berücksichtigt! Dann wäre er nicht gestürzt und zudem nicht auch noch vor dem Landgericht Frankenthal (LG) mit seiner Schadensersatzklage gescheitert.
Der Mann war mit seinem Rennrad auf einem Radweg unterwegs gewesen und aufgrund von dortigen Wurzelschäden gestürzt. Schließlich kam es, wie so oft an dieser Stelle; der Mann wandte sich mit einer Klage gegen die Gemeinde und verlangte von dieser Schadensersatz. Schließlich sei es ihre Aufgabe gewesen, im Rahmen der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht derlei Unfälle weitestgehend zu verhindern. Dieser Argumentation wollte das Gericht aber so nicht ganz folgen.
Das LG hat die Klage des Rennradfahrers abgewiesen. Grundsätzlich muss zwar vor Gefahrenquellen gewarnt werden - dies gilt jedoch nur, soweit sie für andere trotz aufmerksamen Verhaltens im Straßenverkehr nicht erkennbar oder beherrschbar sind. Die Anforderungen an die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht für einen Radweg bemessen sich an einem normalen Radfahrer mit einer üblichen Geschwindigkeit. Ein Rennradfahrer muss nach Auffassung des Gerichts von sich aus besonders vorsichtig fahren, da er mit seinen dünnen Reifen bei Unebenheiten besonders gefährdet ist. Vorliegend waren die Wurzelschäden nach Ansicht der Kammer gut und rechtzeitig erkennbar. Der Wegabschnitt habe auch an anderen Stellen Unebenheiten wie Bodenschwellen, Risse oder eben Wurzelschäden aufgewiesen, so dass Schäden auch an der Unfallstelle nicht überraschend gewesen sein können. Ein konzentrierter Radfahrer hätte sein Fahrverhalten an die vorgefundenen Hindernisse anpassen können und müssen. Aufgrund der ausreichenden Erkennbarkeit der Wurzelschäden sei auch eine Warnung - beispielsweise durch ein Hinweisschild - nicht erforderlich gewesen.
Hinweis: Grundsätzlich hat derjenige, der eine Gefahrenquelle (wie beispielsweise eine aus dem Boden ragende Baumwurzel) schafft oder andauern lässt, notwendige und zumutbare Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu verhindern. Somit hat derjenige die Gefahren auszuräumen oder vor ihnen zu warnen, sobald sie trotz gehöriger Aufmerksamkeit nicht erkennbar sind.
Quelle: LG Frankenthal, Urt. v. 31.08.2023 - 3 O 71/22(aus: Ausgabe 03/2024)
- Abhebungsgebühr und Zinsen: Bei Entschädigungsansprüchen der Bahn gegenüber darf man auch kleinlich sein
Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist. Und wenn man bedenkt, wie oft die Bahn, um die es hier geht, zu spät kommt, können auch Kleingeldbeträge in ihrer Summe ins Gewicht fallen. Vor dem Amtsgericht Münster konnte ein Fahrgast, der auf ein Taxi zurückgreifen musste, seine Entschädigungsansprüche bis auf den dafür angefallenen Cent genau durchsetzen.
Ein Mann wollte mit dem Zug fahren, der allerdings Verspätung hatte. Er verlangte ursprünglich Schadensersatz sowie eine Entschädigung in Höhe von 73,09 EUR und klagte das Geld ein. Daraufhin wurden von der Bahn 66,10 EUR für die entstandenen Taxikosten bezahlt. Der Mann verlangte jedoch auch die Abhebegebühr in Höhe von 5,98 EUR und die Zinsen zurück, da er Geld für das Taxi abheben musste.
Das Geld erhielt er tatsächlich. Die Abhebegebühr konnte der Mann nach § 11 Abs. 2 Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) als erforderliche Aufwendung wegen der Verspätung verlangen. Die EVO ist nach Ansicht des Richters auch neben der europäischen Fahrgastrechteverordnung anwendbar. Das würde sich aus § 11 Abs. 1 Satz 1 EVO ergeben.
Hinweis: Wer gegen die Bahn vorgehen will, hat häufig gute Karten. Ob es sich im Einzelfall lohnt, wegen 6,99 EUR einen Rechtsstreit fortzusetzen, mag jeder für sich selbst entscheiden.
Quelle: AG Münster, Urt. v. 28.09.2023 - 96 C 1400/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Bilder im Internet: Suchmaschine haftet nur bei klarer Rechtslage
Wer eine Suchmaschine auffordert, Inhalte zu löschen, muss schon angeben, wo diese zu finden sind. Denn sonst wird es mehr als schwer, seine - womöglich sogar berechtigten - Ansprüche durchzusetzen. Ebendies war im Folgenden der Fall, wo eine Löschaufforderung so unklar definiert war, dass dem Landgericht Köln (LG) nur ein Weg blieb.
Ein Schweizer Unternehmen bot Investitionen im Marktsegment von Cannabispflanzen an. In den Ergebnissen einer Suchmaschine wurden zwei unangemessene Bilder des Verwaltungsratspräsidenten und eines Landwirts sowie ein Artikel mit dem Titel "Totalverlustrisiko" angezeigt, die sich inhaltlich alle auf das Unternehmen bezogen. Das Unternehmen, das auch den deutschen Markt bedient, forderte die Suchmaschine auf, die entsprechenden Suchergebnisse zu löschen. Doch die Betreiberin der Suchmaschine teilte mit, dass sie die Bilder nicht finden könne, und bat um konkretere Angaben, wo sich die zu löschenden Inhalte befänden. Das Schweizer Unternehmen reagierte darauf nicht, sondern klagte.
Laut LG kommt zwar grundsätzlich eine Haftung der Betreiberin der Suchmaschine in Betracht. Eine derartige Meldung muss aber ausreichende Angaben enthalten, um es Suchmaschinenbetreibern zu ermöglichen, sich ohne eingehende rechtliche Prüfung davon zu überzeugen, dass die Wiedergabe rechtswidrig ist und eine etwaige Löschung des betreffenden Inhalts mit der Freiheit der Meinungsäußerung vereinbar wäre. Das war hier nicht der Fall - deshalb konnte das Unternehmen auch nicht die Löschung verlangen.
Hinweis: Immer mehr Geschädigte wenden sich wegen irregulärer Einträge gegen Suchmaschinen. Das ist auch ihr gutes Recht und wird durch die Rechtsprechung gedeckt. Im Zweifel hilft ein Rechtsanwalt des Vertrauens weiter.
Quelle: LG Köln, Urt. v. 26.10.2023 - 14 O 285/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Handtuchplage am Pool: Ständig reservierte Liegen können durchaus einen berechtigten Reisemangel darstellen
Bei dem folgenden Klassiker handelt es sich quasi um den Nachbarschaftsstreit im Urlaub: die stundenlang per Handtuch reservierte Liege. Diese Form der Auseinandersetzung hat es nun vom Hotelpool bis zum Amtsgericht Hannover (AG) geschafft. Das AG musste beurteilen, ob und wann wegen dieses Markierungsverhaltens urlaubender Sonnenanbeter ein Mangel vorliegt, der entsprechend vergolten werden kann.
Ein Mann hatte auf Rhodos für sich und seine Familie eine Pauschalreise zu einem Wert von über 5.000 EUR gebucht. Das Hotel verfügte über mehrere Swimmingpools und etwa 500 Poolliegen. Es hatte zudem Verhaltensregeln vorgegeben, wonach die Liegen nicht mehr als 30 Minuten ohne Nutzung reserviert werden dürfen. Doch an diese Vorgabe hielten sich die wenigsten Gäste. Der Mann rügte daher mehrfach das Verhalten gegenüber der Hotelleitung, die jedoch nicht gegen die vorgegebenen Verstöße gegen die Verhaltensregeln vorging. Schließlich forderte er einen Teil des Reisepreises in Höhe von knapp 800 EUR zurück. Der Reiseveranstalter war naturgemäß der Auffassung, dass es sich hierbei jedoch nicht um einen Reisemangel handeln würde. Schließlich hätten sich der Mann und seine Familie auch nicht an die Regeln halten müssen und Liegen durch Handtücher reservieren können.
Das AG sprach dem Mann einen Anspruch auf Zahlung von 322,77 EUR zu. Eine Pauschalreise ist dann mangelhaft, wenn der Reiseveranstalter in einer Hotelanlage entweder nur wenige Poolliegen zur Verfügung stellt oder aber nicht einschreitet, wenn andere Reisegäste diese etwa mittels eines Handtuchs längere Zeit reservieren, ohne sie tatsächlich zu nutzen. Zwar ist ein Reiseveranstalter nicht verpflichtet, jedem Hotelgast eine Liege zur Verfügung zu stellen. Dennoch muss die Anzahl der Liegen in einem angemessenen Verhältnis zur Hotelauslastung und damit zur Anzahl der Hotelgäste stehen. Gibt es allerdings zu wenig Liegen, so dass diese für den Reisenden durch das Verhalten anderer wie hier faktisch nicht nutzbar sind, ist der Reiseveranstalter zum Einschreiten verpflichtet. Das Gericht hat insoweit eine Reisepreisminderung von 15 % des Tagesreisepreises der ab der erstmaligen Rüge des Klägers betroffenen Tage angenommen.
Hinweis: Wichtig bei Reisemängeln ist stets, dass diese vor Ort gerügt und die entsprechenden Beweise gesichert werden.
Quelle: AG Hannover, Urt. v. 20.12.2023 - 553 C 5141/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Hessisches Justizkostengesetz: Sonderrecht befreit evangelische Kirche von Gerichtsgebühren
Dass die finanziellen Sonderrechte der Kirchen größer sind als gedacht, zeigt der Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG). Aber fair muss fair bleiben - die Höhe der Summe, um die es bei einem Rechtstreit geht, sollte nicht dafür entscheidend sein, Unrecht mit einem Augenzwinkern hinnehmen zu müssen.
Ein hessischer evangelischer Regionalverband hatte vor Gericht eine mietrechtliche Streitigkeit geführt und dafür eine Gerichtskostenrechnung in Höhe von 140 EUR erhalten. Dagegen ging der Verband gerichtlich vor und meinte, keine Gerichtsgebühren zahlen zu müssen: Eine zum evangelischen Kirchenapparat zu zählende Stelle sei von der Entrichtung von Gerichtsgebühren schließlich befreit.
Und durchaus bestätigte das OLG, dass Art. 22 Satz 2 des Vertrags der evangelischen Landeskirchen in Hessen mit dem Land Hessen auf das Hessische Justizkostengesetz aus dem Jahr 1958 verweist. Die betreffende Regelung aus dem Jahr 1958 sei zwar zwischenzeitlich nicht mehr in Kraft - der besagte Artikel des Vertrags nimmt jedoch weiterhin auf diese Vorschrift wirksam Bezug. Aus diesem Grund musste der Verband die Gerichtskostenrechnung nicht bezahlen.
Hinweis: Die Finanzierung der Kirchen ist schon seit vielen Jahren ein Streitpunkt. Sie ist historisch gewachsen, aber nicht unabänderlich.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 05.01.2024 - 26 Sch 4/23(aus: Ausgabe 03/2024)
- Trotz nachbarlichem Einverständnis: Fenster in Brandwänden müssen wieder verschlossen werden
Dass nicht jede Umbaumaßnahme lediglich vom Wohlwollen des Nachbarn abhängt, zeigt dieser Fall des Verwaltungsgerichts Mainz (VG). Denn hier hatte die Bauordnungsbehörde den berechtigten Einwand bei einer Wand - und zwar sicherheitstechnisch. Dass sie hierbei ein wenig trödelte, spielte für den Ausgang des Ganzen keine wesentliche Rolle.
In der Brandwand eines Wohngebäudes, das auf der Grenze zum Nachbargrundstück stand, wurde im Jahr 2009 ein Fenster eingesetzt, einige Jahre später noch ein zweites. Der Nachbar war damit auch durchaus einverstanden, die Bauordnungsbehörde jedoch nicht. Sie gab den Eigentümern Jahre später auf, die Fenster zu beseitigen, und später im Widerspruchsverfahren obendrein, einen hochfeuerhemmenden Abschluss der Brandwand zu gewährleisten. Gegen den entsprechenden Bescheid klagten die Eigentümer - dies jedoch vergeblich.
Das VG urteilte, dass Öffnungen in Brandwänden unzulässig und deshalb auf Aufforderung der Bauaufsichtsbehörde auch dann zu verschließen seien, wenn der angrenzende Nachbar sich mit diesen einverstanden erklärt hat und die Behörde erst nach längerer Zeit gegen den baurechtswidrigen Zustand vorgeht.
Hinweis: Vor Umbaumaßnahmen sollte stets genau geprüft werden, was bauordnungsrechtlich und bauplanungsrechtlich zulässig ist.
Quelle: VG Mainz, Urt. v. 06.12.2023 - 3 K 39/23.MZ(aus: Ausgabe 03/2024)